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Die Warstader Seiten

Das Treffen der "Kirchplatzkinder" 2006

Die Einladung

Die Kinder vom Kirchplatz - das waren wir! Rund um die Warstader Kirche mit ihrem ohrenbetäubenden Glockenlärm wuchsen wir auf, Einheimische und Flüchtlinge bunt gemischt, arm wie die Kirchenmäuse und immer hungrig.

Vor über 50 Jahren lebten wir dort als Kinder einer geschlagenen Generation, in der jeder mit seinem eigenen Trauma zu kämpfen hatte.

Doch es war auch eine Zeit des Aufbruchs. Alle packten mit an, um das Leben in Deutschland wieder neu zu gestalten. Bei aller Arbeit und Not war zu spüren: es ging aufwärts. Ich denke, auch deshalb hatten wir eine glückliche Kindheit. Wir wohnten Tür an Tür mit unseren Freunden, und der große Kirchplatz war das ideale Spielgelände. Die Kreidegrube nebenan, das Kalkwerk, der Westerberg und die Wingst lockten als ferne Abenteuerplätze. Wir gingen zum Bolzen zum Kriegerdenkmal, zum Schlittschuhfahren zu Oma Tietje und bevölkerten an heißen Tagen die verfallene Badeanstalt an der Grenze nach Basbeck. Doch der Lebensmittelpunkt blieb immer der Kirchplatz. Wir spielten Verstecken, Marmeln, Fußball, Hockey und Völkerball - wie habe ich doch Friedel Grundmann mit ihren starken Würfen und ihren tollen Fangkünsten bewundert. Wir erkletterten alle Bäume ringsum - am wagemutigsten Wolfgang Schönke, der sich bis in die höchsten Spitzen der Linden neben den Bänken wagte. Wir spielten Probe an der Wand vor Peiskers Haus, fuhren Radrennen um die Kirche, ließen Papierflugzeuge aus dem Kirchturm fliegen, klauten Äpfel von Heini Fels und Fischer/Semmelhaack und ließen selbstgebaute Drachen auf den Feldern nebenan steigen.

Und in der Zeit des Älterwerdens horchten wir Kleineren begierig auf das, was so über das Treiben in der Dämmerung auf den Kirchplatzbänken bekannt wurde.

Doch es kam leider oft auch die Zeit des Abschieds. Viele von denen, die es in den Wirren der Nachkriegszeit nach Warstade verschlagen hatte, zogen weiter - Dieter Hospowsky, Jockel und Babsi Deinhardt, Ulla und Waltraud Steudler und andere - und manch bittere Träne wurde dabei vergossen.

Erinnert Ihr Euch an die Namen und Gesichter? Im großen Pastorenhaus Ulli, Christian und Dore Peisker (die erste Tanzstunde, Dore), Babsi und Jockel Deinhardt (immerhin mein Lebensretter, der mich aus dem Eisloch bei "Oma Tietje" gezogen hat). Auf der anderen Seite nahe der Kreidegrube mein bester Freund Dieter Hospowsky - Du bist viel zu früh weggezogen, Dieter! Dann das reine Mädchenhaus mit Friedel und Hanni Grundmann, Ingeborg und Waltraud Johannsen und Anita Schütt, das uns Jungen immer ein Geheimnis blieb. Danach die 3 Stehrenbergs mit Manfred (eigentlich wollte ich Dir ja die blutige Nase irgendwann einmal heimzahlen, aber vergiss es!), Kalli und Hans-Jürgen und oben drüber Jürgen Heymann (bei dem ich einiges abzubitten habe) und Schwester Brigitte. Schließlich das Quitmannhaus mit unserer Familie ganz oben. 9/6/9/6 war die Stufenfolge der Treppen, die ich wohl mehr als tausendmal 'rauf- und 'runter gelaufen bin. Nati, Peter und ich waren noch im Hause, die beiden Großen schon im Beruf. Eine Etage tiefer Ulla und Wolfgang Schönke, und ganz unten Manfred Quitman - Oma Ebel hat mich immer in Mühle und Dame reingelegt. Auch das Nebenhaus mit Lydia, Silly und Eechen Haake gehörte mit dazu, war auch bei den Auseinandersetzungen mit Onkel Fritz nicht zu überhören. Dahinter natürlich noch Familie Fels (unser Milch-, Eier- und Apfellieferant) mit Günter, Ulla, Wolfgang und Dieter. Und schließlich die Eisdiele, erst Quitmann, dann Steudler mit Ulla und Waltraud (nicht nur wegen der Waffelbäckerei ein beliebter Anlaufpunkt). Nur wenige von Euch habe ich später wiedergesehen - doch wenn es geschah, war immer gleich eine Vertrautheit da, wie man sie als Erwachsener kaum noch aufbauen kann. Und heute denke ich oft, dass es schön wäre, Euch alle einmal wiederzusehen, bevor die Zeit ein solches Treffen unmöglich macht. Wenn Ihr ähnlich denkt, bin ich gerne bereit, ein gemeinsames Wochenende in Warstade zu organisieren. Schreibt mir doch bitte, ob Ihr daran interessiert seid. Als Termin könnte ich mir Pfingsten nächsten Jahres vorstellen (25. Mai bis 28. Mai) - in dieser Zeit, wenn alles grün wird, zeigt sich auch Warstade von seiner schöneren Seite.

Natürlich habe ich nicht alle Adressen parat und sicherlich auch einige Namen vergessen; da benötige ich Eure Hilfe. Eine Namensliste mit den mir bekannten Anschriften habe ich beigefügt. Dort, wo Angaben fehlen, bitte ich Euch um Ergänzungen und Hinweise.

Es würde mich freuen, wenn sich die Kinder vom Kirchplatz im nächsten Jahr wiedersehen würden.

Viele Grüße

Jürgen (Jünne)

Und wie schön es war...

Das Treffen der "Kirchplatzkinder" fand am Samstag, 03.06.2006, wie geplant um 11.00 Uhr in der Warstader Schützenhalle statt.
Und sie kamen alle!!!....Dore, Uli und Christian Peisker, Babsi und Jockel Deinhardt, Dieter Hospowsky, Ingeborg und Waltraut Johannson, Friedel und Hanni Grundmann, Anita Schütt, Manfred, Kalli und Hans-Jürgen Stehrenberg, Ursel Schönke, Manfred Quitmann, meine Geschwister Ursel, Walter, Peter und Nati, Ulla und Waltraud Steudler, Eechen und Silli Hake, Günter, Ursel, Wolfgang und Dieter Fels, Ilse Fach, Ede Wolf und schließlich auch noch unsere Seniorinnen Frau Fels und Frau Jantzen.

Das war schon toll, und ich habe mich über den Besuch jedes einzelnen gefreut. Ich danke Euch für Euer Kommen und für die gute Laune, die Ihr mitgebracht habt, die auch die Garantie für ein Gelingen unserer Feier war. Natürlich habe ich mich über die mitgebrachten Geschenke und die finanzielle Unterstützung gefreut, aber glaubt mir, es wäre nicht nötig gewesen. So, wie Ihr da nach und nach eingetroffen seid und wir uns begrüßt haben, war das für mich als Entschädigung für die Vorarbeiten mehr als genug.

Der Ablauf

Nach der Begrüßung und einem Willkommenstrunk gab es erst einmal ein Gruppenfoto für den Herrn von der Niederelbe-Zeitung. Anschließend verließen uns die mitgereisten Partnerinnen und Partner unter Führung meiner Frau zu einem Tagesausflug ins Ahlenmoor. Die Moorbahnfahrt kam sehr gut an, wie ich von mehreren Teilnehmern hörte, und wird den Einheimischen zur Nachahmung empfohlen.
In dem Trubel von Begrüßung, Fotos, Partneraufbruch geriet der Zeitplan ziemlich in Verzug, was aber keinen störte. So langte es bis zum Mittagessen zwar nur zum Anschauen der Gemeinschaftsfotos, aber damit auch für eine Menge Gesprächsstoff.
Nach dem Spargelessen, das insgesamt durchaus in Ordnung war, ging es bei kühlem, aber glücklicherweise trockenen Wetter über den alten Postweg zu Fuß zur evangelischen Kirche. Die dabei entstehende Grüppchenbildung war erwartet und erwünscht; hier konnte sich nun jeder mit seinem Wunschpartner austauschen. Beim Einbiegen auf dem Kirchplatz kam deutlich Bewegung in den Aufzug, denn hier fanden jetzt Begegnungen mit Orten der Kindheit statt, die vielen unter die Haut gingen. Das alte Toilettenhäuschen wurde freundlich begrüßt und das Pastorenhaus unverblümt von allen Seiten einer Betrachtung unterzogen. Dieter schoss mittlerweile ganze Fotoserien von dem kleinen Eckhaus an dem Weg zur Kreidegrube. An der Kirche begrüßte uns Pastor Erdmann, der uns sehr anschaulich nicht nur die Kirchenentwicklung der letzten Jahrzehnte näher brachte, sondern auch mit Fakten versorgte, die man sonst als Kirchenbesucher nicht hört. Der Gang durchs Kirchenschiff, der Altarraum, aber auch der Einstieg in den Turm rief bei vielen von uns Erinnerungen wach, so dass der Kirchenbesuch insgesamt eine Menge Emotionen auslöste. Dies zeigte sich übrigens auch in der Teilnahme am Gottesdienst am nächsten Tage. Viele Ehemalige kamen, die früher kaum einmal den Weg in die Kirche fanden.
Heinz-Günters Enkelin Dominique schoss dann das obligatorische Gruppenfoto vor der Kirche. Zwischendurch eine kleine Hiobsbotschaft: die Kulturdiele ist besetzt! Trotzdem blieb es bei dem Weg zur Museumsschute, in der Eechen zu großer Form auflief und einiges zum Zementtransport beitragen konnte.
Danach ging es über die Pferdebahn zum Feuerwehrhaus, einem vollwertigen Ersatz für die Kulturdiele. Unsere Gastgeber hatten eingedeckt und jede Menge wohlschmeckende Torten gebacken, die auch regen Zuspruch fanden. Aber auch der Butterkuchen hatte es vielen angetan, da er ja auch ein Stück norddeutsche Heimat ist und beileibe nicht überall erhältlich. Eine Akkordeongruppe untermalte das Ganze musikalisch.
Herr Korff, stellvertretender Bürgermeister der Stadt Hemmoor und Ehemann von Ilse (Fach), brachte uns dann in einem sehr lebendigen und anschaulichen Vortrag ein Stückchen Warstader Geschichte nahe, bevor wir uns wieder auf den Weg zur Schützenhalle machten.
Dort wurden noch weitere Fotos der Teilnehmer aus Kinder- und Jugendzeit gezeigt, auch Bilder der Hauptstraße aus den 50'er und 60'er Jahren wurden vorgeführt, doch die Einzelvorstellung der Teilnehmer fiel aus Zeitgründen leider ins Wasser. So wissen wir zwar immer noch nicht, wie es jedem von uns in den vergangenen Jahrzehnten ergangen ist, aber dafür konnten wir persönliche Geschichte und Geschichten mit denen austauschen, die uns besonders am Herzen lagen.
So verging die Zeit wie im Fluge, und als das Treffen gegen Mitternacht endete, waren sich eigentlich alle einig, an einer sehr schönen und bewegenden Veranstaltung teilgenommen zu haben.

Der Sonntag

Der zweite Tag unseres Treffens sollte auch die Partnerinnen und Partner einbeziehen, die am Vortag einen recht schönen, aber doch einigermaßen kühlen Nachmittag im Ahlener Moor verbracht hatten. Die meisten nahmen die Gelegenheit wahr, um 10.00 Uhr an einem Gottesdienst von Pastor Erdmann in der Warstader Kirche teilzunehmen, so dass sich das Eintreffen im Ostener Fährkrug bis 11.30 Uhr hinzog. Der Stimmung tat das keinen Abbruch, und es waren immerhin 29 Teilnehmer, die sich nach einem kurzen Klönschnack am frühen Nachmittag auf den Weg nach Oberndorf machten. Die Mocambo erwartete uns bereits, und es war gut, dass das Achterschiff für uns reserviert war, denn sonst wäre unsere Gruppe sicherlich auf das ganze Schiff verstreut worden.

Die Witterung war recht kühl, so dass man es anfangs immer nur für kurze Momente auf dem Oberdeck aushielt, aber dafür wurde um so intensiver unter Deck geklönt. Fast 2 Stunden dauerte die Fahrt zur Ostemündung und zurück, und glücklicherweise hatten wir Uli dabei, der mit seinen Bildern auch diesen Teil des Treffens dokumentierte. Was die meisten gar nicht mitbekamen: da wir auf der Rückfahrt mit Wind fuhren, war es bei der aufkommender Sonne streckenweise richtig schön warm an Deck.

Ein bisschen Ärger gab es leider zum Schluss mit der Abrechnung von Kaffee und Kuchen, aber auch das tat der Stimmung keinen Abbruch, und die meisten fuhren dann wieder mit zurück in den Fährkrug, wo das Treffen fortgesetzt wurde. Ohne Programm, aber sehr lebhaft und unter Anschauen und Diskutieren der ersten Bilder ging der Abend wie im Fluge dahin, der dann leider auch die Trennung brachte.

Ingeborg und Waltraut waren am nächsten Morgen die letzten, die mit uns am Frühstückstisch saßen und ein erstes Fazit zogen.

Ein Fazit?

Nein, ein allgemeingültiges Urteil kann und will ich hier nicht abgeben, aber vielleicht ein paar Gedanken, die mich bewegt haben.

Ich glaube, unser Treffen war für alle spannend, weil hier wirklich Zeiträume von bis zu 50 Jahren überbrückt wurden. Selbst reduziert auf die reine menschliche Neugier, von der sich wohl keiner freisprechen kann, standen einem Begegnungen bevor, die man vorher gar nicht abschätzen konnte.

Es war auch ein bewegendes Treffen, weil wir hier in unsere Jugend und Kindheit zurückgeschaut haben, in eine Zeit, in der das Leben mit allen Hoffnungen und Wünschen noch vor uns lag. Dieser Blick war aber verbunden mit dem Blick auf das, was nach 50 Jahren aus den Wünschen und Träumen geworden ist. Und trotzdem konnte ich keine Wehmut entdecken; sondern sah überall Freude über das Wiedersehen. Und so wurde es auch ein sehr harmonisches Treffen.

Partiell war es für mich auch ein überraschendes Treffen, weil sich manches Wiedersehen doch anders gestaltete, als ich gedacht hatte. In dem Zusammenhang: ist Euch eigentlich aufgefallen, dass unter uns nicht einer ist, von dem man vielleicht hinter vorgehaltener Hand hätte sagen können: "Na, ganz schön heruntergekommen!" Nein, alle sind, ausnahmslos, anständige und ordentliche Menschen geworden - und das ist nicht von vorneherein selbstverständlich.

Letztlich war es für mich aber ein zu kurzes Treffen, weil ich bei weitem nicht mit allen und so intensiv sprechen konnte, wie ich es gerne getan hätte; und wenn jemand sich von mir vernachlässigt fühlt, hat er sicherlich Recht. Aber das war keine böse Absicht, sondern einfach situationsbedingt. Ich habe festgestellt, dass ich doch einige der alten Kontakte gerne wieder aufnehmen würde, und insofern hoffe ich, dass unser Treffen noch einige Nachwirkungen hat und nicht schon nach ein paar Tagen vergessen ist!