Warstader Geschichten

Eisgang

Als 9-jähriger wurde ich zur Kindererholung nach Lüneburg verschickt. War mir sehr peinlich, denn Lüneburg war verrufen. "Du bist verrückt, mein Kind, gehörst nach Lüneburg", sangen die Kinder, wohl in Anspielung auf das dortige Landeskrankenhaus. Dahin wollte ich nun wirklich nicht, und wenn schon, dann sollte das möglichst niemand erfahren. Aber wie kam es überhaupt zu diesem Erholungsaufenthalt?

Nun, alles begann mit "Oma Tietje".
"Kommst Du mit zu Oma Tietje, Jockel?"
"Ich weiß nicht. Meinst Du nicht, dass es schon zu warm ist?"
"Nee, glaub' ich nicht. Wir können ja erst mal gucken. Ich hätte unheimlich Lust zu schippern."

Dem Uneingeweihten ist die Unterhaltung zwischen meinem Freund Jockel und mir sicherlich unverständlich, doch wir wissen natürlich genau, worum es bei dem Gespräch geht. Oma Tietje - so wird die alte Frau genannt, die in der kleinen Kate am Rande des Dorfes wohnt, von wo sich der Blick ungehindert über das Grün der Marsch erstreckt. Die erste Kuhweide grenzt unmittelbar daran an. Sie ist im Winter immer überschwemmt und, soweit die Witterung es zulässt, die bevorzugte Eislauffläche der Dorfjugend. Mit Oma Tietje ist also nicht die alte Frau gemeint, sondern die Eisfläche auf der Weide hinter ihrem Haus. Sie dient auch den Gastwirten des Ortes als Eisreservoir für ihre Getränkekeller. Zum Ende des Winters schlagen sie das Eis an der tiefsten Stelle großflächig auf und zersägen es in Schollen, die an Land gezogen, zerkleinert und abtransportiert werden. Dieses natürliche Kühlmittel hält die Getränke in den Kellern bis in den Herbst hinein frisch. Beim Schlittschuhlaufen ist der entstehende See natürlich hinderlich, aber dafür kann man herrlich darauf schippern. Es bleiben nämlich regelmäßig ein paar Eisschollen übrig, die von den Jungen als Flöße benutzt werden. Und die sind heute unser Ziel.
Mit langen Stangen ausgerüstet, Gummistiefel an den Füßen, machen wir uns auf den Weg. Die Sonne scheint kräftig an diesem ersten Märzmorgen, als wir die Eisfläche erreichen. Ein bisschen Bedenken haben wir schon. Der starke Februarfrost ist seit einigen Tagen vorbei, auf dem Eis stehen große Pfützen, und weit und breit sind wir die einzigen Eisgänger. Aber nach einem kurzen Test lassen wir uns nicht mehr abhalten. Das Eis trägt. Jetzt nur noch eine passende Scholle suchen, und schon geht's mitten auf den See. Bedroht von Eisbären, kalbenden Gletschern und einer gefährlichen Strömung, die uns ins offene Meer hinausreißen will, staken wir von Ufer zu Ufer, springen von der Scholle auf's feste Eis und wieder zurück. Immer waghalsiger werden die Unternehmen. Jetzt springt Jockel auf meine Scholle. Aber ich bin schon unterwegs zu einer eine anderen und springe hinüber. Kaum gelandet, merkt ich, dass das keine gute Wahl war. Die Scholle sackt sofort weg, und ich kann mich nur retten, indem ich zur Mitte laufe. Ich hatte nicht erkannt, dass die Scholle schon sehr dünn ist und kaum noch trägt. Die Ränder sind rundum vom Wasser überspült und spiegelglatt. Bloß wieder runter!
Doch das ist leichter gesagt als getan. Wenn ich zum Rand gehe, sackt die Scholle sofort weg - also schleunigst wieder zur Mitte zurück. Hilflos treibe ich mitten auf dem See und komme gar nicht auf die Idee, Jockel um Hilfe zu rufen, der ahnungslos auf der anderen Seite umherstakt.
Von dieser Scholle muss ich herunter, unbedingt - also muss ich mich abstoßen, um zum Eisrand zu kommen. Also gehe ich entschlossen ein paar Schritte zum Rand hin. Die Scholle senkt sich leicht. Nur nicht beachten; schnell abstoßen und dann wieder zur Mitte hin. Noch einen Schritt - und ich rutsche von der schrägliegenden Scholle unaufhaltsam ab und verschwinde mit einem lauten Platscher im Wasser.
Der erste Gedanke beim Wiederauftauchen: "So kalt ist das Wasser ja gar nicht!" Der zweite: "Muss ich jetzt sterben?" Ich kann doch noch nicht schwimmen, nur ein bisschen Hundepaddeln. Sterbende sollen vor ihrem Tod ihr ganzes Leben an sich vorbeiziehen sehen, habe ich einmal gelesen.  Doch bei mir zieht nichts vorbei - so angestrengt ich auch nachdenke. Ein tröstlicher Gedanke: also werde ich doch wohl mit dem Leben davonkommen.
Bis zum festen Eisrand sind es nur wenige Meter. Die Gummistiefel hängen wie Klötze an den Füßen und werden hewrunter gestrampelt. Jetzt geht es besser. Der Eisrand, nun aber heraus. Doch es klappt nicht. Die Kleidung hat sich voll Wasser gesogen, und der schwere Mantel zieht  nach unten. "Jockel!" Ein verzweifelter Hilferuf! Der stakt schon wie wild zum Eisrand hin, springt von seiner Scholle, läuft herüber und beugt sich herab. Es wird ganz knapp, denn mit seinen glatten Schuhen hat Jockel alle Mühe, den erschöpften Freund herauszuhieven und nicht selbst ins Wasser zu rutschen. Doch er schafft es schließlich, und wie ein Fisch an Land liege ich triefend und japsend auf dem Eis. Doch bald erwachen die Lebensgeister wieder - ich rapple mich auf. Wohin jetzt - nach Hause? Das ist zu weit, da gibt sicher eine Erkältung. Also zu der nahegelegenen Bahnhofswirtschaft, in der ich kurze Zeit später tropfend stehe und dem Wirt meine Geschichte erzähle. Und ich habe Glück: der Amtsarzt aus der nahen Kreisstadt und seine Sprechstundenhilfe sitzen gerade im Lokal und warten dort auf den Zug. Sie nehmen sich meiner an, ziehen mich gegen meinen Protest mitten im Lokal aus, rubbeln mich ab und lassen sich vom Wirt trockene Sachen geben. Ein Taxi wird gerufen - erstmals in seinem Leben fahre ich mit einem Taxi.
Zu Hause wartet schon meine Mutter und nimmt mich in die Arme - nicht einmal ausgeschimpft werde ich, aber ins Bett gesteckt, damit es keine Erkältung gibt. Am nächsten Tag gehen wir gemeinsam zu Jockel - mit einer riesigen Pralinenschachtel. Jockels Mutter meint zwar, das sei nicht nötig, und Jockel habe eher eine Tracht Prügel als Pralinen verdient, doch sie sagt das ganz freundlich und streicht ihm dabei über das Haar. Jockel ist ganz verlegen, aber auch sichtlich stolz, so unvermutet als Lebensretter gefeiert zu werden.
Mit dem Schippern ist es für diesen Winter vorbei, aber noch nicht mit der Geschichte. Der Arzt aus der Bahnhofsgastwirtschaft war auch der Hausarzt unserer Familie, und bei seinem nächsten Besuch führte er ein langes Gespräch mit meinerMutter. Der Junge sei total unterernährt (so fühlte ich mich aber gar nicht). Er habe in der Bahnhofswirtschaft gesehen, dass Jürgen nur Haut und Knochen sei und einmal richtig aufgepäppelt werden müsse. Er habe deshalb einen 4-wöchigen Erholungsaufenthalt für Jürgen organisiert und gleich alle Antragsunterlagen mitgebracht.

Nun ja, und deshalb musste ich für 4 Wochen dahin, "wo die Verrückten sind". Und natürlich wussten alle Freunde Bescheid.

Diese Geschichte hat übrigens eine Variante gehabt, die ich von Ute Suhr (Mädchenname) erfahren habe:
"Mein Bruder Klaus ist bei Oma Tietje auch mal mit dem einzigen Paar Schlittschuhe, das wir hatten, ins offene Wasser gefahren. Er hatte übersehen, dass schon Eis von der Fläche abgesägt worden war. Ein Freund fuhr ihn dann klatschnass und vor Kälte bibbernd auf seinem Fahrrad nach Haus, wo er mit Fliederbeergrog ins Bett gesteckt wurde. Er überstand das Bad ohne Erkältung."